Halle-Lese

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Rabbi Isaaks Brücken

Rabbi Isaaks Brücken

Florian Russi

Im Mittelalter gab es in Halle eine jüdische Gemeinde. Ihr geistiger Vater war Rabbi Isaak, ein Mann mit Vertrauen zu Gott und Liebe zu seinen Mitmenschen.
Eines Tages trat ein junger Mann zu ihm und sagte: »Rabbi, ich habe mich in ein Mädchen aus Bitterfeld verliebt. Leider muss ich an den Wochentagen arbeiten und kann sie nur am Sabbat besuchen. Das göttliche Gesetz verbietet mir jedoch anstrengende Reisen.«
Da antwortete ihm der Rabbi: »Tatsächlich ist der Sabbat ein Tag der Ruhe. Es ist verboten zu arbeiten oder anstrengende Verrichtungen zu tun. Doch sind Reisen oder Wanderungen zur Geliebten dir eine Mühe? Besuche sie also, danke Gott für ihre Liebe, und freue dich über den freien Tag, den er euch geschenkt hat.«
Der junge Mann bedankte sich überschwänglich und wollte den Rabbi umarmen. Der jedoch wehrte ihn ab. »Gott Jahwe hat nicht einen Bund mit dem jüdischen Volk geschlossen, weil er es hasste und demütigen wollte, sondern damit es wachse und gedeihe. Wir sollten daher die Gesetze und die Worte der Propheten nicht so auslegen, dass sie uns zur Gefahr werden. Um Nachteile zu überwinden, dürfen wir Brücken bauen, wie Gott selbst es uns vorgemacht hat. Um das Leben unseres Stammvaters Isaak zu retten, hat er Abraham eine Brücke gebaut. Er schickte ihm einen Widder und nahm ihn an Stelle des Menschenopfers. Sprich also mit Jahwe und preise ihn, denn er ist ein gütiger Gott.«

Ein anderes Mal kam ein jüdischer Kaufmann von einer Reise zurück und suchte des Rabbis Rat. »Immer wieder wurde ich von Geschäftsfreunden zum Essen eingeladen. Ich kann mir nicht sicher sein, dabei koscher gegessen zu haben.«
»Das Gesetz verlangt nicht, dass du hungern oder deine Geschäftsfreunde beleidigen sollst«, antwortete der Rabbi. »Wenn du also nicht unnötig lange auf Reisen geblieben bist, nur weil du Freude gefunden hattest an den verbotenen Speisen, dann sehe ich für dich keine Schuld. Gott wollte, als er uns Gesetze gab, dass wir gesund leben. Es ging ihm nicht um unsinnige Rituale, die niemand einhalten kann. Gehe also auch du und preise unseren Herrn.«
Wieder später kam ein gläubiger Jude zu ihm und erzählte: »Ich besitze ein Feld mit Apfelbäumen. Vor zwei Tagen habe ich die Äpfel geerntet und, wie das Gesetz es verlangt, einige Früchte an den Bäumen hängen lassen für arme und hungernde Menschen.
In diesem Jahr ist der Hunger groß, und so wurden mir alle Äpfel, die ich geerntet hatte, aus meinem Keller gestohlen. Nun habe ich keine mehr und meine Familie leidet darunter.«
»Du hast gut daran getan, einige Äpfel übrig zu lassen für jene, die sonst kein Obst bekommen würden. Jetzt, nachdem man dir deine Ernte gestohlen hat, gehörst auch du zu diesen bedauernswerten Wesen. Gehe also auf dein Feld und sieh zu, dass du noch ein paar Früchte pflücken kannst. Dann trete vor Gott und danke ihm für seine Weisheit.«
Ein streng gläubiger alter Mann kam zu Rabbi lsaak und sagte: »Gestern war ich so mit Sorgen belastet, dass ich gebetet habe, ohne mir vorher die Hände zu waschen. Was muss ich tun, um wieder rein zu werden?»
Da erwiderte der Rabbi: »Mit schmutzigen Händen soll man weder vor seinen Gott noch vor seine Mitmenschen treten. Das Waschen hält Unrat und auch Krankheiten von uns fern. Ich nehme an, dass du inzwischen deine Hände gesäubert hast. Für Gott aber war es wichtiger, dass du mit lauterem Herzen vor ihn getreten bist. Er ist ein geistiges Wesen, ihm konnten deine ungewaschenen Hände nichts anhaben. Geh also und preise unseren Schöpfer. Lass dich nicht ablenken durch deine Sorgen, sondern sprich mit ihm darüber. Er wird dir längst verziehen haben.«
Einige streng gesetzestreue Juden waren sehr unzufrieden mit Rabbi lsaak und seiner Art, die Gebote Gottes auszulegen. Sie richteten daher eine Beschwerde an den Oberrabbiner Nathan in Leipzig. Der war ein Verfechter einer wortgetreuen Befolgung überlieferten Gesetze und Vorschriften. Er war als unnachgiebig bekannt und auch gefürchtet. Mit finsterem Gesicht trug er Rabbi Isaak die gegen ihn erhobenen Beschwerden vor und mahnte ihn, die Mitglieder seiner Gemeinde zur strengen Gesetzesbefolgung anzuhalten.

Noch während Nathan sich in Halle aufhielt, drang eine Horde von Kreuzfahrern in die Stadt ein. Sie war auf dem langen Weg nach Jerusalem und hatte schon an mehren Orten Judenpogrome veranstaltet.
Im Rat der Stadt saßen einige Herren zusammen und besprachen, wie man sich gegenüber den Kreuzfahrern verhalten solle. »Sie geben vor, die heiligen Stätten von den Ungläubigen befreien zu wollen«, sagte einer der Räte. »Jesus aber war auch ein Jude und hat die Nächstenliebe zum obersten Gebot erklärt. Wie können sie also Jesus dienen und gleichzeitig seine Stammesbrüder töten?«
»Ich stimme dir zu«, erwiderte ein anderer, »doch schulde ich dem Juden Simon noch zweitausend Taler. Wenn Simon zufällig nicht mehr am Leben wäre, würde mich das von meinen Schulden befreien.«
»Die Juden machen Dinge, die ich mir nicht erklären kann«, ergänzte ein weiteres Ratsmitglied. »Warum essen sie nicht wie wir, weshalb feiern sie den Sabbat und nicht den den Sonntag und aus welchem Grund brauchen sie eine Synagoge und besuchen nicht die Kirche?«
»Sie sollen Kinder schlachten», warf sein Nebenmann ein.
»Machen wir uns nicht selbst zu Mördern, wenn wir die Kreuzfahrer in die Stadt einlassen?« gab ein anderer zu bedenken.
»Wenn wir uns ihnen entgegenstellen, werden sie als erste uns umbringen«, entgegnete da derjenige, der bei Simon Schulden hatte.
Während sie noch miteinander sprachen, kam der Anführer der Kreuzfahrer zu ihnen und fragte: »Gibt es Juden in Halle?»
»Nicht wenige,» antwortete einer aus der Runde.
»Wo finden wir sie, und woran können wir sie erkennen?«, wollte der Kreuzfahrer wissen.
»In unserer Stadt gibt es kein Judenghetto. Ihr müsst also allen, die ihr für Juden haltet, die Hosen herunterziehen und nachsehen, ob sie beschnitten sind. Diejenigen, die dann mit ihnen weinen und wehklagen, sind ihre Frauen und Töchter oder Mütter und Schwestern.«
Sofort fielen die Kreuzfahrer über die Bewohner der Stadt her und töteten jeden, von dem sie annahmen, er sei Jude. Auch Rabbi Isaak und der Oberrabbiner Nathan waren unter den Opfern. Als sie ans Himmelstor kamen und vor Jahwe, ihren Herrn traten, fiel Nathan auf die Knie und rief: »Ich weiß, du bist ein zorniger Gott, doch habe ich immer alle deine Gesetze befolgt.»
»So war es«, bestätigte ihm Gott Jahwe, »doch viele deiner Brüder wollen nicht, dass ich dich ins himmlische Paradies einlasse. Sie haben Sorge, dass du ihnen die hier gewonnene Freude vergällst.« An Rabbi Isaak gewandt, fuhr er dann fort: »Auch über dich liegen mir viele Beschwerden vor. Du sollst immerzu versucht haben, meine Gesetze zu umgehen. Deshalb wollen einige hohe Priester nicht, dass du in den Himmel kommst. Dabei muss ich dir sagen, nie wurde meine Güte so viel gepriesen wie von den Mitgliedern deiner Gemeinde. - Wie soll ich dir also böse sein?«
Da fragte Rabbi Isaak seinen Herrn und Gott: »Gelten die strengen Gesetze denn auch im Himmel?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete der. Da nahm Rabbi Isaak Gott und auch den Oberrabbiner Nathan an den Händen und führte sie durch das Himmelstor, »Wenn die strengen Gesetze nicht mehr gelten«, sagte er, »dann kann Nathan sie nicht mehr einfordern, und ich brauche keine Brücken mehr zu bauen. - Genau so hatte ich mir den Himmel vorgestellt«, ergänzte er dankbar.

*****
Text aus:
Florian Russi: Der Drachenprinz, Bertuch-Verlag Weimar 2004

Fotos und Fotobearbeitung: Rita Dadder

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