Halle-Lese

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Geld verdirbt den Charakter

Geld verdirbt den Charakter

Florian Russi

In Halle an der Saale lebte vor vielen Jahren der reiche Kaufmann Berthold. Er hatte vier Söhne. Drei von ihnen stammten aus seiner ersten Ehe, einer aus der Ehe mit seiner zweiten Frau Arnika.
Eines Tages sagte Berthold zu Arnika: „Ich fühle mich nicht gesund und muss an meine Nachfolge denken. Mein ältester Sohn Friedrich soll mein Geschäft erben."
„Das wäre sehr ungerecht", antwortete Arnika. „Viele Jahre lang haben wir beide zusammen den Betrieb geführt. Deshalb wäre es folgerichtig, wenn unser gemeinsamer Sohn Eberhard Dein Erbe antreten würde."
„Er ist dafür viel zu jung und unerfahren", wandte Berthold ein.
„Friedrich ist zwar älter als Eberhard" erwiderte Arnika. „Doch ist er auch ein Schwerenöter. Er wird unser Vermögen vergeuden."
So gerieten Berthold und Arnika in einen Streit über den Charakter von Friedrich und Eberhard sowie den der beiden anderen Söhne Bertholds, Erich und Michael. Als sie sich nicht einigen konnten, machte Arnika den Vorschlag, die vier auf eine Probe zu stellen.
„Wir werden sie unabhängig voneinander zu deinem Vater nach Berlin schicken. Jedem von ihnen geben wir tausend Golddukaten mit und fordern ihn auf, diese seinem Großvater zu überbringen. So werden wir feststellen, wer von den vieren der ehrlichste und verlässlichste ist."
Als der älteste, Friedrich, allein zu Hause war, übergaben sie ihm mehrere Beutel mit insgesamt tausend Goldstücken und sagten ihm: „Dein Großvater hat deinem Vater vor vielen Jahren 500 Golddukaten geliehen. Bringe sie ihm zurück mitsamt den Zinsen. Dann überreichten sie ihm einen weiteren Beutel mit 100 Silbertalern für seine Aufwendungen während der Reise. Sie ließen eine Kutsche vorfahren und verabschiedeten ihn nach Berlin.
Unterwegs öffnete Friedrich die Beutel und zählte die Goldstücke. Es waren tatsächlich tausend, und er sagte zu sich selbst: „Warum gibt mein Vater tausend Golddukaten zurück, wenn er nur fünfhundert geliehen hat? Mein Großvater ist ein großzügiger Mann, er wird niemals von seinem Sohn Zinsen haben wollen. Sicher ist mein Vater zu ehrgeizig und will dem Großvater nur beweisen, dass er ein noch viel erfolgreicherer Kaufmann ist als dieser."
Mit solchen Gedanken zog Friedrich seines Weges, als er plötzlich einen unbändigen Hunger verspürte. Aus einem Gasthaus drang fröhlicher Gesang und der Duft von Bratwürsten. Das Gasthaus hieß ‚Zum goldenen Löwen'. Er kehrte ein, ließ sich die besten Weine kommen, lud ein paar Umhersitzende dazu ein, mit ihm zu bechern und zu schmausen und sang und grölte mit ihnen bis in den frühen Morgen.
Als er danach zu Bett ging und spät am Nachmittag wieder erwachte und weiterziehen wollte, legte ihm der Wirt eine Rechnung über 100 Silbertaler vor, gerade soviel, wie er für die gesamte Reise nach Berlin mitbekommen hatte. „Mein Weinkeller ist fast leer, du und deine Freunde haben alles vertilgt, was die Küche hergegeben hat. Anschließend habt ihr auch noch mein Geschirr zertrümmert und das Mobiliar zerstört. Also wirst du den genannten Betrag zahlen, oder ich schicke nach Wachtposten und lasse dich in den Schuldturm werfen."
Schnell zahlte Friedrich die 100 Silberstücke und machte sich eiligst auf die Weiterfahrt.

Kurz bevor die Dunkelheit hereinbrach, kam er zu einem allein stehenden Haus. Davor stand eine junge Frau in aufreizender Kleidung. Sie winkte ihn heran und sagte: „Nachts lauert Gefahr auf den Straßen. Bleibe also bei mir und leiste mir Gesellschaft." 
So stieg er von seiner Kutsche und blieb mehrere Tage bei der jungen Frau, die sich Elvira nannte. Als er sich von  ihr verabschieden wollte, sagte sie: „Ich habe dir viele schöne Stunden bereitet. Zeige dich also erkenntlich und beweise, dass du ein vornehmer und großzügiger Mann bist."
Friedrich gab ihr 100 Golddukaten und dachte bei sich: Großvater wird auch mit 900 Münzen zufrieden sein.
Einige Zeit später stieß er zu einer Gruppe, die um einen Tisch herumstand und Glücks- und Geschicklichkeitsspiele veranstaltete. Einer von ihnen zog seinen Hut vor Friedrich und rief ihm zu:  „Ihr seid der  Edelmann, der mit sicherem Blick und Geschick die Bank sprengen wird." Sie luden ihn ein, mit ihnen zu spielen. Der Wortführer legte eine getrocknete Erbse auf den Tisch und verdeckte sie dann mit der Hälfte einer Nussschale. Zwei weitere Schalenhälften postierte er daneben und begann dann, mit ihnen über der Erbse zu manövrieren. „Machen wir eine Probe", sagte der Spieler zu Friedrich. „Ihr wisst, unter welcher Schale sich die Erbse jetzt befindet?" Friedrich deutete auf die mittlere Schale. „Sehr richtig, Ihr habt ein geübtes Auge", befand der Spieler und deckte zum Beweis die mittlere Schale auf,  unter der sich tatsächlich die Erbse befand.
„Jetzt wird es ernst, ich erwarte Eure Einsätze", sagte der Wortführer dann zu den Umstehenden. Friedrich reichte ihm eine Goldmünze. „Oh, ich dachte es mir wohl, dass  Ihr ein sehr feiner Herr seid. Euch kann man so leicht nichts vormachen", meinte der Spieler. Dann vertauschte er wieder mit schnellen Bewegungen die Schalen über der Erbse. Als auf sein Befragen, unter welcher Schale sie sich denn nun befinde, Friedrich wieder auf die mittlere deutete, hatte er sich diesmal geirrt. Die Erbse lag unter der rechten Schale. Das Spiel war verloren, doch alle Umstehenden hatten sich so sehr mit ihm daran begeistert, dass er einen neuen Einsatz wagte und immer weitere folgen ließ. Ein paar Mal traf er dabei die richtige Entscheidung und erhöhte danach seinen Einsatz.  Doch meistens irrte er sich. Am Schluss hatte er 300 Golddukaten verspielt. Nun, Großvater wird auch mit 600 Dukaten einverstanden sein, dachte Friedrich und fuhr weiter.
Dann traf er auf einen Bettler, der am Wegesrand saß und jammerte und schrie. „Hab Erbarmen, mein Leben wird bald zu Ende sein, aber meine Kinder sollen nicht auch sterben müssen. Zehn hungrige und frierende Kinder, ihre Mutter hat uns verlassen. Hilf uns, um der Gnade Gottes willen. Das Schicksal wird dich tausendfach belohnen." Da hielt Friedrich die Kutsche an, stieg hinab und schenkte dem Bettler 100 Golddukaten. „Großvater wird sich auch mit 500 Goldstücken zufrieden geben", dachte er.
Als er in Berlin anlangte und seinem Großvater die verbliebenen Münzen überreichte, sagte dieser: „Was für ein ehrlicher Mann dein Vater doch ist! Ich hatte längst vergessen, ihm so viel Geld geliehen zu haben. Doch ich bin ein alter Mann. Dein Vater wird sich besser erinnern können  als ich." Er bedankte sich bei Friedrich und gab ihm viele Segenswünsche mit auf die Rückreise.
Ein paar Tage nach Friedrich schickten Berthold und Arnika auch den zweiten Sohn, Erich, mit 1000 Dukaten nach Berlin. „Bring das Geld zu deinem Großvater. Wir wollen ihm zurückzahlen, was er uns geliehen hat." Auch ihm gaben sie zusätzlich 100 Silbertaler für die eigenen Bedürfnisse mit auf den Weg.
Erich fuhr los und kam am ersten Abend beim ‚Goldenen Löwen' an, wo schon sein älterer Bruder Halt gemacht hatte. Er erwies sich als noch groß-zügiger als Friedrich, lud noch mehr Leute zu Essen und Trinken ein und verweilte auch zwei Tage länger in dem gastlichen Haus. Als er weiterziehen wollte, reichten die 100 Silberstücke nicht, um seine Feste zu bezahlen. So musste er sich an einen der Beutel halten, in denen sich die für den Großvater bestimmten Goldstücke befanden. „Ich weiß, dass Großvater mich mag", sagte er sich. „Er wird es mir nachsehen, wenn ich ihm nicht das gesamte Geld bringe."
Erich zog weiter und gelangte zu dem Haus, vor dem die junge Dame Elvira stand, die wieder aufreizend gekleidet war und ihm schmeichelte. „Was bist du für ein gut aussehender Mann. Ich bin alleine. Willst du mir Gesellschaft leisten?" Gerne ließ er sich von ihr einladen und verbrachte einige Tage und Nächte bei ihr. Zwischendurch beschenkte er sie mit vielen Golddukaten. Dann jauchzte sie auf vor Freude und sagte zu ihm: „Wenn du noch ein paar Münzen mehr für mich hast, werde ich dich noch glücklicher machen, als du es jetzt schon bist." So ließ er insgesamt 500 Goldstücke zurück, als er sich endlich von ihr verabschiedete.
Bald danach kam auch er an dem Tisch mit den Spielern vorbei. Er hielt an und konnte genau so wenig wie sein Bruder der Versuchung widerstehen, sich vom Spiel berauschen zu lassen. Vielleicht gewinne ich ja wieder zurück, was ich Elvira geschenkt habe, hoffte er bei sich und setzte hohe Summen ein. Entsprechend hoch verlor er.
Als er schließlich an dem Bettler vorbeikam, der ihm zurief: „Mir kannst du nicht mehr helfen, so habe wenigstens Erbarmen mit meinen hungernden und kranken Kindern", da schenkte er ihm die letzte Goldmünze, die ihm noch verblieben war. „Das ist alles, was ich habe", sagte er zu ihm. „Das Schicksal wird es dir danken und dich vielfältig belohnen", antwortete der Bettler.
Als Erich mit leerem Beutel vor seinen Großvater trat, gestand er ihm kleinlaut: „Tausend Dukaten hätte ich dir von meinem Vater überbringen sollen. Doch unterwegs habe ich mich in eine wunderschöne Frau verliebt,  und gestern hat mich ein armer Mann so sehr gerührt, dass ich ihm das letzte Gold geschenkt habe, das ich noch bei mir hatte."
„Das war sehr nobel von dir", antwortete der Großvater und lud ihn zu einem Streifzug durch das Berliner Nachtleben ein. Als sie beim Abendessen saßen, sagte er zu ihm: „Sag mir, was deine Eltern für ein Spiel mit mir treiben. Erst überbringt dein älterer Bruder mir 500 Dukaten, die ich angeblich deinem Vater geliehen habe, dann kommst du mit einem schlechten Gewissen. Seit vielen Jahren haben dein Vater und deine Stiefmutter kein Interesse mehr an mir gezeigt. Sie hatten nur ihre Geschäfte im Sinn. Als ich euch einmal in Halle besuchte, hast du dich als einziger um mich gekümmert. Deshalb habe ich  dich ins Herz geschlossen, und du bist mir der liebste von meinen Enkeln." Da atmete Erich erleichtert auf und bat den Großvater, ihn nicht bei seinem Vater zu verraten.
„Möglicherweise wollte Berthold Euch beide testen", meinte der Großvater nachdenklich. „Vielleicht steckt aber auch deine Stiefmutter hinter dem Plan. Die war noch nie verlegen um sonderbare Einfälle. Warten wir also ab, was noch kommen wird." Er legte seinen Arm um Erichs Schulter, küsste ihn und gab ihm einige Goldstücke, damit er sich auch in Berlin ein wenig vergnügen konnte.
Eine Woche später hatten Berthold und Arnika auch den dritten Sohn, Michael, mit tausend Dukaten nach Berlin verabschiedet. Michael betrat den ‚Goldenen  Löwen', ließ sich fürstlich bewirten und lud andere dazu ein, mit ihm zu feiern. An diesem Abend war auch eine Gesellschaft feiner Herren eingekehrt. Als einer von ihnen zur Klampfe griff und sentimentale Lieder anstimmte, wurde es Michael warm ums Herz. Er stellte sich auf eine Bank und begann mit seiner schönen Tenorstimme klangvoll zu singen. Nach kurzer Zeit hatten sich alle Gäste um ihn geschart. Sie klatschten Beifall und forderten ihn auf, immer neue Lieder vorzutragen. Als er davon müde wurde und aufhören wollte, ließ der Anführer der feinen Gesellschaft seinen Hut kreisen und forderte alle auf, einen Obolus für den gefeierten Sänger zu entrichten und ihn so anzuregen, immer weiter zu singen. Am frühen Morgen fiel Michael zwar erschöpft ins Bett, hatte jedoch soviel Geld bei sich, dass er davon seine Rechnung begleichen konnte und das mitgeführte Gold und Silber nicht anzurühren brauchte.

Als er zu Elviras Haus kam, lockte sie auch ihn hinein und gewährte ihm auf vielerlei Art und Weise ihre Gunst. Am Tag des Abschieds hörten sie plötzlich vor dem Haus eine gestrenge Männerstimme rufen: „Elvira, komm sofort zu mir!" Ohne noch ein Wort zu sagen, eilte Elvira zur Tür hinaus. Als Michael nach einer Weile vorsichtig aus dem Fenster schaute, konnte er niemanden  sehen. Auch Elvira war verschwunden. Da ging Michael zu der Schatulle, in die sie die Goldstücke gelegt, die sie von ihm erhalten hatte. Sie war prall gefüllt mit gleichen Münzen. „500 Goldstücke habe ich ihr für ihre Dienste gegeben", sagte Michael zu sich selbst. „Was ich an ihr geleistet habe, ist mindestens das Doppelte wert." Er nahm 1000 Dukaten an sich und verließ das vergnügliche Haus.
Auch er kam zu den Hütchenspielern und ließ sich zum Spielen verführen. „Unter welcher Schale befindet sich die Erbse?" fragte ihn der Spielführer. Im selben Augenblick ging eine sehr hübsche Frau an ihnen vorbei. Michael ließ sich von ihrem Anblick fangen, schaute ihr nach und zeigte gedankenverloren auf die linke Schale. Tatsächlich befand sich die Erbse darunter, und Michael gewann drei Dukaten. „Ihr seid wohl ein besonders schlauer Mann", giftete der Spieler ihn an und begann aufs neue mit den Schalen zu jonglieren. „Nun, unter welcher Schale befindet sich die Erbse jetzt?", fragte er  ungeduldig. Abermals kam die schöne Frau vorbei, sie schien unschlüssig und irgendetwas zu suchen. Aufs Neue wendete Michael ihr seine Blicke zu, und nochmals zeigte er ohne zu überlegen auf die linke Schale. „Ihr kennt einen üblen Trick", fluchte der Spielführer, zahlte Michael fünf Dukaten und versagte ihm, sich weiter an dem Spiel zu beteiligen. Der hatte auch das Interesse daran verloren und verließ den Spiel-Tisch, um die schöne junge Frau anzusprechen. Die aber war spurlos verschwunden.
Enttäuscht setzte Michael seine Fahrt fort. Als er durch einen Wald kam, hörte er plötzlich Schüsse und wildes Geschrei. Räuber überfielen ihn und rissen ihn von seiner Kutsche. Sie schlugen ihn nieder, rissen ihm die Kleider vom Leib und bemächtigten sich seines gesamten Goldes und Silbers. Dann banden sie seine beiden Pferde von der Kutsche los und trabten mit ihrer Beute davon.
Halbnackt und verschmutzt musste Michael seinen Weg zu Fuß fortsetzen. Als er zu dem Bettler kam, waren gerade fürstliche Wachmänner dabei, diesen festzuhalten und zu schelten. „Mach dich davon und lüge nicht die Leute an, dass du kein Geld hättest. Man hat dich mit vielen Goldstücken gesehen." „Ich bettele ja nicht nur für mich", antwortete da der Mann mit weinerlicher Stimme. „Überall ist Not im Lande." Er deutete auf den herannahenden halbnackten Michael und sagte: „Schaut ihn euch an. Solch arme Gestalten gibt es zu Hunderten und ich beschenke sie, damit sie sich wenigstens etwas zum Anziehen kaufen können." Der Bettler riss sich von den Wachmännern los, ging auf Michael zu und überreichte ihm zehn Dukaten. Der nahm sie dankbar an und wollte den Wachmännern den Raub-Überfall anzeigen. Die jedoch hatten schon wieder ihre Pferde bestiegen und waren davon geritten.
So ging Michael weiter seines Weges. Kurz vor Berlin stieß er wieder auf mehrere Wachleute, die gerade dabei waren, eine Meute von Räubern festzunehmen. Michael schaute sich um. In einiger Entfernung sah er seine zwei Pferde stehen, beladen mit seinem und anderem Gold und unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Als sie ihn erkannten, schnaubten sie freudig und ließen sich von ihm beruhigen. Dann saß er auf und ritt zu seinem Großvater.
„Was soll ich mit dem angebotenen Geld?" sagte der. „Nun bin ich ganz gewiss, dass deine Eltern ein Spiel treiben." Er überlegte, ob Berthold vielleicht zu viele Schulden gemacht haben könnte und sein verbliebenes Vermögen bei ihm in Sicherheit zu bringen trachtete. „Dann soll er mir mitteilen, was er von mir erwartet", fügte er verärgert hinzu und schickte Michael mit allem Gold und Geld, das er mitgebracht hatte, auf den Heimweg.
Als letzter machte sich Eberhard, der gemeinsame Sohn von Arnika und Berthold, auf die Reise nach Berlin. Heimlich hatte Arnika ihn über ihren Plan aufgeklärt und ihn eindringlich gemahnt, das Geld vollzählig abzuliefern. Auch hatte sie ihm dreimal soviel an Silbermünzen mit auf den Weg gegeben wie seinen Halbbrüdern.
Eberhard kam zum ‚Goldenen Löwen', kehrte ein und ließ sich, bevor er bestellte, die Preise der Speisen und Getränke nennen. Früh schon und ohne vorher zu singen ging er zu Bett.
Als er zu Elviras Haus kam, konnte auch er ihr nicht widerstehen. Doch bevor er ihre Wohnung betrat, sagte er zu ihr: „Leider besitze ich nur ein paar Silbertaler. Doch wenn du lieb zu mir bist, werde ich bald wiederkommen und dich mit Gold und Schmuck überhäufen." Da antwortete sie: „Zwar bin ich von einem früheren Freund bestohlen worden, aber insgesamt ging es mir nicht schlecht in diesem Jahr. Deshalb will ich auf dein Angebot eingehen und dich mit meiner Liebe verwöhnen."
Als Eberhard zu dem Tisch mit den Spielern kam, schaute er angewidert in eine andere Richtung und trieb seine Pferde zur Eile an.
Dann traf auch er auf den Bettler, der ihm den Weg versperrte und rief: „Hab Erbarmen mit mir und meinen Kindern." „Ich kann dir nichts geben", erwiderte Eberhard. „Mein eigenes Geld habe ich ausgegeben. Was ich jetzt noch bei mir habe, gehört mir nicht. „Schenke mir wenigstens einen Dukaten", flehte der Bettler. „Das Schicksal wird dich tausendfach dafür belohnen." Eberhard schüttelte abweisend den Kopf. „Also werde ich dich verfluchen", rief der Mann  „und das Schicksal wird großes Unglück über dich bringen." Da wurde Eberhard von Angst befallen. Er öffnete einen der Beutel und warf ihm einen Dukaten zu.
Bei seinem Großvater angelangt, konnte er ihm 999 Dukaten übergeben. „Einen Dukaten bitte ich, mir zu stunden", sagte er und erzählte ihm von seinem Erlebnis mit dem Bettler.
„Meine Schatztruhen quellen über von Gold, wenn du aber darauf bestehst, will ich deine Beutel noch dazu legen", antwortete der Großvater und verabschiedete auch den letzten seiner Enkel.

Eine Woche später meldeten Berthold und Arnika beim Großvater ihren Besuch an. „Sag uns, welcher von unseren Söhnen dir tausend Golddukaten übergeben hat", forderten sie ihn auf und berichteten ihm, wie sie beschlossen hätten, den Charakter ihrer vier Söhne zu testen.
Der Großvater nickte lächelnd und antwortete: „Wenn ihr mir versprecht, den Betreffenden zum Haupterben zu machen, will ich euch den Namen gerne verraten. Nur einer nämlich hat mir tausend Goldstücke überreicht."
„Wir versprechen es bei unserem Leben", drängten sie auf eine Antwort.
„So will ich euch den Namen nennen: Es war Erich, der Zweitgeborene. Er ist ein guter Junge!"
„Dann soll er auch mein Geschäft übernehmen", sagte Berthold bestimmt. Sofort brach er auf und traf alle notwendigen Regelungen.

aus:
Florian Russi: Der Drachenprinz, Bertuch-Verlag Weimar 2004

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