Waren Sie schon einmal im Frühling auf dem Stadtgottesacker in Halle? Ab der zweiten Märzhälfte bedecken Blausterne (Scilla siberica) die meisten Gräber und Wegränder fast wie ein Teppich. Mit seiner romantischen Atmosphäre ist der Stadtgottesacker aber nicht nur im Frühling, sondern zu allen Jahreszeiten ein Ruhepol in der lauten Stadt. Verblüffend, liegt er doch nur ein paar Schritte vom hektischen Hansering entfernt. Auch wenn man es ihm auf den ersten Blick nicht ansehen mag, so gehört das Denkmal in seinem Erhaltungszustand und seiner Geschlossenheit zu den bedeutendsten Renaissancefriedhöfen Europas.
Im Jahr 1529 hatte Albrecht Kardinal von Brandenburg, der damalige Landesfürst und populäre Gegenspieler Martin Luthers, den Friedhof in Auftrag gegeben. Damals wurde es üblich, die Toten außerhalb der Stadtmauern zu beerdigen. Als Fläche wurde der Martinsberg ausgewählt, der schon seit dem 14. Jahrhundert als Begräbnisstätte für die vielen Pesttoten der verschiedenen Epidemien genutzt wurde und direkt vor der Stadtmauer lag. Noch heute ist deren Verlauf unschwer an der Lage des Leipziger Turms zu erkennen, der Teil der mittelalterlichen Stadtmauer der Salzstadt war. Der Friedhof wurde am 25. August 1529 geweiht. Die Bauzeit zwischen 1557 und 1590 erlebte Kardinal Albrecht, der in der Moritzburg residierte und als wichtiger Förderer der Künste Halle seinen Stempel aufdrückte, allerdings nicht mehr in der Stadt, denn bereits im Jahr 1541 wurde er von den Protestanten vertrieben. Die Entwürfe des Stadtgottesackers nach dem Vorbild des Campo Santo in Pisa stammten von Ratsbaumeister Nickel Hoffmann, der den Bau auch leitete.
In den ansonsten von einer ca. 5 Meter hohen Mauer umschlossenen Friedhof gelangt man durch einen Torbau mit Turm. Wirkt der Stadtgottesacker mit seinen Bastionen und Schießscharten von außen noch abweisen, ist man im Inneren von seiner Weitläufigkeit überrascht. Die Anlage wird von bis zu vier Meter tiefen Arkadenbauten in vier Flügeln gebildet, die aus 94 von Hoffman gestalteten Schwibbögen bestehen. Ähnliche Bögen findet man in Halle bereits auf den Emporen der Marktkirche, die ebenfalls von ihm entworfen wurden. Die Schwibbögen aus Sandstein bildeten die Grabnischen, in denen bis zum 19. Jahrhundert die Särge offen dastanden. Verschlossen wurden die Bögen bis zu dieser Zeit lediglich mit reich verzierten schmiedeeisernen oder hölzernen Gittern, die z.T. heute noch zu sehen sind. Die Vorderseiten der Arkaden und die Pfeiler sind kunstvoll mit Rankenornamenten, Reliefs und Inschriften aus dem Alten und Neuen Testament verziert und mit Putten oder Symbolen geschmückt. Schon seit dem 17. Jahrhundert scheint es zu Einstürzen an den Arkaden gekommen zu sein. Im 19. Jahrhundert begann man dann, die meisten Grüfte mit Erde zu füllen. Zudem wurde in dieser Zeit eine Trauerkapelle auf dem Gelände errichtet.
Bei einem Streifzug über den Stadtgottesacker trifft man immer wieder auf bekannte Namen. Auf den in Halle allgegenwärtigen Namen Händel zum Beispiel: In einem Familiengrab im Schwibbogen Nr. 60 liegen Georg und Dorothea Händel, die Eltern des berühmten Komponisten. Der Vater hatte den Schwibbogen im Jahr 1674 erworben, um seine erste Frau Anna, die ein Opfer der Pest wurde, zu beerdigen. In seiner zweiten Ehe mit Dorothea wurde Georg Friedrich Händel als erstes Kind geboren, sein Vater war damals bereits 63 Jahre alt. Auch zwei Schwestern des Komponisten, Dorothea Sophia und Johanna Christiana liegen im Familiengrab.
Im Schwibbogen Nr. 80/81 findet man das Grab von August Hermann Franke, der im Jahr 1698 am Waisenhausring in Halle die nach ihm benannte Franckesche Stiftung gegründet hatte. Franke war als Professor für Griechisch, Orientalische Sprachen und Theologie an die Martin-Luther-Universität nach Halle gekommen. Als Pfarrer an der St. Georgen-Kirche hatte er begonnen, Kinder seiner Gemeinde zu unterrichten. Aus einem neu gegründeten Waisenhaus entstand im Verlauf von 50 Jahren eine Schulstadt für mehr als 2.500 Menschen mit eigenen Schul- und Wohngebäuden, Werkstätten, Gärten und einer Apotheke. Franke gilt mit seinem Lebenswerk als Wegbereiter des Pietismus, der von Halle aus für einige Jahrzehnte große Ausstrahlung auf den protestantischen Glauben, pädagogische Konzepte und die Missionarstätigkeit seiner Zeit entfaltete.
Aber es sind nicht nur die immer zuerst genannten Namen, die dem Stadtgottesacker ihren Charakter verleihen. Ein Rundgang vorbei an den Grabbögen und den vielgestaltigen Gräbern auf dem Innenfeld des Arkadengevierts führt zu Familiengräbern, deren Namen sich wie das „Who-is-Who" der halleschen Stadtgeschichte lesen. Es finden sich Professoren, Ärzte, Unternehmer und Künstler. Haben Sie z.B. schon von dem Altertumswissenschaftler Johann Heinrich Schulze (1687 - 1744) gehört, der im Bogen Nr. 85 bestattet ist. Der vielseitige Gelehrte hatte u.a. wegweisende Arbeiten über die Gefährlichkeit von Metallgefäßen für Arzneien und Speisen angefertigt. Oder kennen Sie Carl Wentzel (1876 - 1944)? Er war erfolgreicher Agrarunternehmer, hatte großen Anteil an der Förderung der Zuckerrüben-Kultur im Umland von Halle und wurde 1944 als einer der Beteiligten des Hitler-Attentats verurteilt und hingerichtet. Auch wenn seine Asche nicht auf dem Stadtgottesacker verstreut wurde, findet sich das Familiengrab der lange in Halle verwurzelten Familie Wentzel auf dem Innenfeld. Und nicht zuletzt die von Efeu überwachsenen Gräber die vielen Unbekannten im Schatten der großen Bäume und das Zwitschern der zahlreichen davon angelockten Singvögel tragen zum romantisch-verwunschenen Charme des Stadtgottesackers bei.
Im 2. Weltkrieg beschädigt, wurde der Stadtgottesacker als einmaliges Denkmal aus der Zeit der Renaissance in den 1950er-Jahren teilweise und in den 1990er-Jahren komplett wieder neu aufgebaut. Mittel für die Sanierung kamen und kommen noch von der Stiftung Denkmalschutz und aus Privatspenden, vor allem einer Spende aus dem Vermächtnis des Chemie-Nobelpreisträgers Karl Ziegler (1898 - 1973) in Millionenhöhe. Seit 2001 können auch wieder Urnenbeisetzungen auf dem Friedhof stattfinden. In den letzten Jahren wurden einige bisher verfallene Bögen wieder aufgebaut und neu künstlerisch gestaltet. Ein Rundgang über den Stadtgottesacker bietet so manche Anregung, sich mal wieder ausführlicher mit den Persönlichkeiten zu befassen, die der Stadt Halle im Laufe der Jahrhunderte ihren Stempel aufgedrückt haben.
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Fotos:
Friedhof/ Cemetery „Stadtgottesacker" de:Halle (Saale), im Stil Campo Sant Bettenburg, Wikipedia, CC-BY-SA-2.0-DE.
Eine aufwändige Grabstelle im von Arkaden umgebenen Innenraum der Friedhofsanlage Stadtgottesacker in Halle. Foto: Bettenburg, Wikipedia, CC-BY-SA-2.0-DE.
Arkaden des Stadtgottesackers in Halle, Foto: Bettenburg, Wikipedia, CC-BY-SA-2.0-DE.