Im Westen der Stadt Halle liegt Halle-Neustadt. 2014 feierte man hier das 50-jährige Jubiläum der Grundsteinlegung. Hinter Halle-Neustadt lagen zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre Aufbau und geplantes Wachstum in der DDR und 25 Jahre Rückbau und ungeplante Schrumpfung nach der Wiedervereinigung. Das negative Image der Plattenbaustadt haftet ihm bis heute an. Dennoch lebt derzeit jeder fünfte Hallenser in der Neubaustadt.
Halle-Neustadt ist eine echte Reißbrettstadt. Mit dem Beschluss des Zentralkomitees der SED aus dem Jahr 1958 zu Ansiedlung von Chemiearbeitern in der Nähe der chemischen Werke in Buna und Leuna hatte die Stadtgeschichte begonnen. Richard Paulick war als Chefarchitekt mit einem Entwurf für die Stadtplanung beauftrag worden. Es entstand eines der größten Neubaugebiete der DDR.
Paulick, Jahrgang 1903, war eine sehr interessante Persönlichkeit und ein echter Kosmopolit. Als Assistent von Walter Gropius hatte er am Bauhaus von Dessau die klassische Moderne kennengelernt. In den 1930er-Jahren leitete Paulick dann ein Architekturbüro in Berlin. Bereits 1933 emigrierte er nach Shanghai, wo er als Professor an der dortigen Universität und später als Leiter des Stadtplanungsamtes wirkte. 1949 kehrte er in die DDR zurück. Hier entwarf er u.a. einen Abschnitt der Stalinallee in Berlin und war verantwortlich für die dortige Großbaustelle. Nach einer Zwischenstation als Leiter des Aufbaubüros Hoyerswerda kam er nach Halle-Neustadt.
Mit der Grundsteinlegung im Jahr 1964 für den Stadtteil Halle-West entstanden in rasantem Tempo zunächst vier Wohnkomplexe und Teile des Stadtzentrums. Ein Jahr später zogen die ersten Mieter ein. Paulick brach ganz bewusst mit der Idee, dass eine Stadt über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg wachsen muss. Vielmehr wollte er die Ideale der Bauhausarchitektur mit der Idee der sozialistischen Stadt verbinden. Es entstanden nicht nur Wohnblocks mit für diese Zeit sehr komfortabel ausgestatteten Wohnungen, sondern auch Kindergärten und Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Turnhallen, Bibliotheken, Spielplätze, Jugendklubs und Restaurants, die strategisch in den Wohnquartieren positioniert wurden. Die Stadt wurde mit eigenen medizinischen Einrichtungen ausgestattet, es gab eine Post, ein Kino und einen gut ausgebauten Nahverkehr. Das Straßensystem war so angelegt, dass die Wohnquartiere ruhig und verkehrsberuhigt blieben. Dies alles sollte der jungen Einwohnerschaft das Leben erleichtern und die Wege kurz halten.
In kurzer Zeit entstand so Wohnraum für Tausende. Halle-Neustadt erhielt zum Beispiel auch den größten Wohnblock der DDR (Block 618 bis 621, heute Zerbster Straße), der 380 Meter lang war und Wohnraum für 2.000 Menschen bot. Bei aller Typenbauweise wurde jedoch vor allem zu Anfang auch auf eine gewisse Vielfalt in der Architektur geachtet. Immer wieder wurden die Standardbauten durch sog. Sonderlösungen aufgebrochen, was das Stadtbild vielfältiger machte. Zudem wurden umfangreiche Grünanlagen mit Springbrunnen und Plastiken angelegt, was Halle-Neustadt trotz der Betonbauten zu einer überraschend grünen Stadt machte. 1989 waren 42 Prozent der städtischen Flächen Grün- und Freiflächen. Beim Bau der in späteren Jahren entstandenen Wohnkomplexe wurden die städtebaulichen Vorstellungen aber mehr und mehr ökonomischen Zwängen geopfert und so sind beispielsweise die Wohngebiete im Südpark aus städtebaulicher Sicht nicht mehr mit den ersten Quartieren zu vergleichen.
Bis zur Wende blieb Halle-Neustadt eine Großbaustelle. Die letzten Wohnviertel wurden erst 1989 fertiggestellt. Doch kurze Zeit später begann der Exodus. Die Stadt verlor in rasantem Tempo ihre Einwohner. Viele suchten neue Chancen in den westdeutschen Bundesländern. Die es sich leisten konnten, bauten eigene Häuschen am Stadtrand oder zogen in die sanierten Altbauten in Halles Innenstadt. Dennoch blieb Halle-Neustadt auch in den folgenden Jahren eine Großbaustelle. Die Wohnungsunternehmen und -genossenschaften, neue Eigentümer der Plattenbauten, erkannten sehr schnell, dass etwas getan werden musste, um die Mieter in Halle-Neustadt zu halten.
Die Bundesrepublik stellte zu Beginn der 1990er-Jahre erhebliche Fördermittel zur Sanierung der Plattenbauten zu Verfügung, mit deren Hilfe umfassende Sanierungsmaßnahmen vorgenommen wurden. Wohnungen wurden umgebaut, neu gedämmt, mit Fenstern, neuen Heizungen oder Fahrstühlen ausgestattet, die Häuser bekamen frische und farbenfrohe Anstriche verpasst. An zahlreichen Stellen erfolgte auch ein Rückbau von ganzen Wohnblocks oder der etagenweise Rückbau von Wohnungen, um den zu erwartenden Leerstand zu senken. Ca. 60 Prozent aller Wohnblocks wurden saniert, weitere 30 Prozent teilsaniert. Zahlreiche Schulen, Turnhallen, Spielplätze und Freiflächen wurden durch die öffentliche Hand instand gesetzt und renoviert. Auch private Investoren sahen sich im nunmehrigen Stadtteil von Halle um: Wohnungen wurden privatisiert und zahlreiche Einkaufscenter und Supermärkte wurden neu eröffnet. Große Teile des Stadtzentrums wurden umgestaltet, es entstand sogar ein Hotel.
Heute steht der größte Stadtteil der Saalestadt vor vielen Herausforderungen. Die Zahl der Einwohner ist von fast 100.000 in den 1980er-Jahren auf derzeit ca. 45.000 gesunken. Dies hatte eine tiefgreifende Änderung der demografischen und sozialen Struktur der Einwohner zur Folge. War bis zur Wende der Alltag in Halle-Neustadt ganz stark durch den Rhythmus der Chemiebetriebe geprägt, so leben hier heute zahlreiche Rentner, die zur ersten Einwohnergeneration der Stadt zählen und einen großen Anteil der Einwohnerschaft ausmachen. Viele dieser Einwohner werden nicht mehr lange in Halle-Neustadt leben, was in den nächsten 10 bis 20 Jahren zu einer erneuten großen Fluktuation führen wird.
Bei Umfragen geben die Einwohner von Halle-Neustadt mehrheitlich an, sich mit dem Stadtteil verbunden zu fühlen und hier gern zu leben. Die Mieten sind in Halles Westen immer noch vergleichsweise günstig. Daher sind viele der Neuzuzüge durch eine wirtschaftlich prekäre Lebenslage begründet, was zu entsprechenden sozialen Problemen führt. Mittlerweile entdecken aber auch immer mehr Studenten die praktisch geschnittenen Neubauwohnungen und die infrastrukturell gut erschlossenen Wohnkomplexe, was zu einer sozialen Durchmischung und Belebung des Stadtviertels nur beitragen kann. In einigen Quartieren gibt es nach wie vor einen großen Leerstand. Auffällig ist auch der Verfall der leerstehenden Hochhausscheiben im Stadtzentrum, für die es nach wie vor kein Nutzungskonzept gibt. Die Stadt Halle muss sich in den nächsten Jahren der Aufgabe stellen, dieses bedeutende Erbe der Nachkriegsmoderne zu erhalten und weiterhin mit Leben zu erfüllen.
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Bidlquellen:
Blick auf Halle-Neustadt von einem Punkthochhaus, Gerald Knizia,gemeinfrei
Das Zentrum von Halle-Neustadt Foto: Bettenburg, Wikipedia, CC BY-SA 2.0 de